Seattle, WA

Es ist der 25. Dezember 2012 – Weihnachtsmorgen in Amerika. Nach altbewährter Amerikanischen Tradition öffne ich in Pyjamas die ersten Geschenke. Ein paar Minuten und einem Haufen zerissenem Geschenkpapier später halte ich neben Pullover und Socken auch eine kleine Karte in der Hand: Nicht etwa wie die vertrauten Gutscheine, die man als Kind noch am Tag vor Weihnachten bastelt, über “1x Frühstück am Bett” halte ich hier etwas anderes in der Hand – eine Reise nach Seattle.

 

Zwei Monate sind nun vergangen, Flüge gebucht und Taschen gepackt. In den letzten Wochen hat es sehr viel geschneit und eine Wasserpumpe im Keller ist natürlich auch eingefroren. In weniger als 12 Stunden sollen wir zu dritt in einem Flieger Richtung Nordwesten sitzen – es sollte aber anders kommen. Während meine Gasteltern beim Abendessen den Wetterbericht schauen, komme ich erst ein paar Stunden später nach Hause. Doch irgendetwas hat nicht gestimmt. Die Stimmung. Ich frage also nach, was los ist. “Ich komme nicht mit.” Jerry hat sich fest in den Kopf gesetzt, nicht mit uns nach Seattle zu fliegen.

Laut dem Wetterbericht soll es in der kommenden Woche außergewöhnlich warm werden und die drei Zoll an Schnee schmelzen natürlich auch. “Das hält unser Keller nicht aus – die Pumpe ist zugefroren und wenn ich nichts mache haben wir am Ende einen überfluteten Keller und dürfen den ganzen Teppich neu machen!” Mittlerweile ist es schon nach Mitternacht, alle Beteiligten sind frustriert und keiner weiß so richtig, was getan werden soll. Immerhin geht der Flieger in weniger als fünf Stunden. Ich biete an, ein paar Freunde anzurufen und den ganzen Schnee um’s Haus herum wegzuschaffen. Ich biete auch an, die Woche hierzubleiben, damit die beiden ihre Kinder sehen können. Auch das will er nicht.

Am nächsten Morgen sind es nur meine Gastmutter und ich, die in das Flugzeug steigen. Von Jerry haben wir uns am Flughafen verabschiedet. Zuerst geht unsere Reise mit einem kleiner, wackligen Maschine nach Minneapolis, der größten Stadt Minnesotas. Ich hatte mir nachts noch den Computer meiner Gasteltern “ausgeliehen” und nicht nur Skype installiert, sondern auch eine sehr detaillierte Anleitung geschrieben, wie man denn auch damit umgeht. So konnte auch Jerry mit uns nach Seattle – wenn auch nur virtuell.

Wir landen in Seattle und ich warte so lange, bis Judith unser Mietauto abholt. Wir fahren zu Lizzie, sozusagen meiner Gastschwester. Seattle ist nicht nur bekannt für das schlechte Wetter, sondern auch für eine wunderschöne Landschaft und dem ersten Starbucks der Welt – bei mir jedenfalls. Am selben Abend nimmt mich Judith noch mit dem Auto in eine benachbarte Ortschaft, Woodinville. Wir fahren durch dunkle, waldige Abschnitte, die an eine Berg- und Talfahrt erinnern. Zwischendurch vereinzelte Blicke auf Weinhöfe und große, abgezäunte Felder mit galoppierenden Pferden.

Zwischen großen, teuer-aussehenden Anwesen und Waldstücken biegen wir nach rechts in einen unbefassten Privatweg ein. Vor uns liegen drei Häuser, alle genauso schön wie auch verwildert. Auf den Ziegeln des Daches wächst vereinzelt Moos und im Garten wachsen wilde Pflanzen. “So mochten wir es – man spürt die Natur hier richtig. Auch wenn die Besitzer an manchen Ecken vielleicht mal nachbessern müssten..”, erklärt mir Judith. Wir stehen vor dem alten Haus meiner Gasteltern. Sie zeigt auf ein kleines Fenster genau unter der Dachgiebel – das hätten sie extra für Lizzie gebaut. Schon oft habe ich Geschichten gehört, wie etwa über den Küchentisch, den sie einmal im Sperrmüll gefunden haben und schon so oft geschliffen und neu lackiert haben. Oder auch das kleine Regal voller Bücher unter dem Küchfenster. “Überall waren Bücher – manchmal haben die sich sogar beim Abendessen auf dem Tisch gestapelt.” Wenn jemand eine Geschichte erzählt hat oder mal eine Frage hatte – wir konnten sofort nachschlagen. “Da gab es so was wie das Internet noch gar nicht! Oder wie du mit deinem Handy..”

Judith besteht darauf, mich den alten Nachbarn vorzustellen – sofern die denn noch da leben sollten. Und das tun sie wirklich. Wir verlassen das Nachbarhaus eine Stunde später und machen uns auf den Weg in ihr Lieblings-Chinarestaurant am Fuße des Bergs. Dort treffe ich zum ersten Mal meine anderen “Geschwister” Tim und Paul. Von Bildern kenne ich sie, persönlich aber nicht. Die Szene beim Essen kommt mir wie aus einem Film vor – eine glückliche Familienversammlung. Jerry und Judith sehen ihre Kinder oft nur einmal im Jahr : dann machen sie meistens Urlaub auf Hawaii. Neben Lizzie fehlt natürlich nur Jerry. Ein schlechtes Gewissen beschleicht mich.

Wir fahren wieder zurück zu Lizzies Haus. Tim hat sich entschlossen die Woche lang bei ihr zu wohnen. Das haben die Beiden früher auch gemacht, das Haus ist für Lizzie nämlich eigentlich viel zu groß. Lizzie ist Immobilienmaklerin, das Geschäft ist wegen der Wirtschaftslage Amerikas aber stark zusammengebrochen. So arbeitet sie nebenbei noch als “Bodypump”-Trainer in einem Fitnessstudio. Auch Tim ist beruflich nicht sehr glücklich, nach seinem langen Aufenthalt in Japan als Englischlehrer will er auch in Amerika als Lehrer arbeiten. Mittlerweile ist Tim Mitte 40 und immer noch kein Lehrer. “Es hat einfach nicht geklappt – das Studium ist teuer und die Zeit dazu fehlt auch.” Seit mehreren Jahren arbeitet Tim als Truckfahrer und fährt regelmäßig die ganze Westküste entlang.

Judith liegt schon im Bett, als Lizzie, Tim und ich beschließen noch “Hangover 2” zu schauen. Lizzie macht Popcorn und am Ende des Tages falle ich totmüde auf die Couch. Man kann die Regentropfen auf dem Dach hören und ein dumpfes Hundegebell verhallt irgendwo in der Ferne. Ich bin gespannt, was die nächsten Tage noch bringen und schlafe ein.

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